Ein Land zum Glücklichsein?


Aus: H. Fielding Hall (1931): Das Lieblingsvolk Buddhas.
Atlantis-Verlag, Berlin-Zürich.

Kap. 9, S. 115-124.

 

GLÜCK

 

Wie ich schon sagte, besteht bei den Burmanen die merkwürdige Tatsache, daß man, gleich nachdem man sich vom König verabschiedet, bei dem Dorfbewohner vorspricht. Es gibt keine Zwischenklassen, keine Adeligen, keinen erblichen Beamtem Land, keine Großgrundbesitzer, keine reichen Bankiers oder Kaufleute.

Ferner gibt es dort keine Kasten, keine Gilden für Handel, Kunst oder Wissenschaft. Wenn jemand eine Methode, Silber zu machen, erfindet, dann wird er sie nie geheim halten, sondern ein Allgemeingut daraus machen. Es ist merkwürdig, wie frei Burma sich von der Exklusivität der Kasten hält, die doch in Indien so allgemein ist, und die auch in Europa noch in hohem Grad besteht. Der Burmane ist derartig in die Freiheit verliebt, daß er die Fesseln nicht erträgt, die die Kaste verlangt. Er will sich nicht eines unbedeutenden zeitlichen Vorteils wegen an andere Menschen binden, die damit verbundene Unruhe lohnt sich ihm nicht. Er bleibt lieber frei und arm als reich und gebunden. Ihm liegt nichts ferner als das Gefühl der Exklusivität. Er verabscheut Abgeschiedenheit und Geheimnistuerei.

Seine Religion, seine Frauen, er selbst sind frei, es gibt in seinem Leben keine dunklen Stellen, wohin das Licht nicht gelangt. Er ist bereit, alle Menschen als seine Brüder zu betrachten.

Und so steht das ganze Volk auf dem gleichen Niveau. Natürlich gibt es Reichere und Ärmere, aber es gibt keine großen Reichtümer, und niemand ist so arm, daß er nicht genug zu essen und zu trinken hätte. Alle essen ungefähr das gleiche Essen., alle kleiden sieh gleich. Die Vergnügen sind für alle gleich, denn jederlei Unterhaltung ist immer frei. Dem Burmanen liegt also nichts daran, reich zu sein. Es entspricht nicht seiner Natur, Wohlstand zu begehren, es entspricht nicht seiner Natur, den Wohlstand, wenn er ihn erlangt, festzuhalten. Wenn seine täglichen Ansprüche befriedigt sind, dann hat das Geld für ihn keinen besonderen Wert mehr. Ihn kümmert es nicht, Besitz auf Besitz, Münzen auf Münzen zu häufen; die bloße Tatsache, daß er Geld besitzt, verursacht ihm kein Vergnügen. Nur die Kaufkraft des Geldes hat Wert für ihn. Wenn wir etwas Geld haben, dann betrachten wir es als Nestei, um mehr daraus zu machen. Nicht so der Burmane: er gibt es aus. Und wenn er seine eigenen kleinen Wünsche befriedigt hat, wenn er sich ein neues Seidengewand und seiner Frau eine goldene Spange gekauft hat, wenn er die Dorfbewohner mit einer Theatervorstellung erfreut hat, dann gibt er — und manchmal sogar schon früher — den Rest für wohltätige Zwecke aus.

Er baut eine Pagode zu Ehren des großen Meisters, in die die Menschen gehen, um über die großen Gesetze des Lebens nachzudenken. Er baut eine Klosterschule, in der die Dorfjungen unterrichtet werden, die jeder Dorfbewohner eine Zeitlang besucht, um die große Weisheit zu lernen. Er gräbt einen Brunnen oder baut eine Brücke oder auch ein Rasthaus. "Wenn die Summe sehr gering ist, dann baut er vielleicht ein kleines Haus — ein winziges kleines Haus — in dem er zwei oder drei Krüge Trinkwasser für vorübergehende Reisende aufbewahrt. Die Krüge sind dann immer mit Wasser gefüllt und eine kleine Kokosnußschale dient als Becher.

Die Summen, die alljährlich für wohltätige Zwecke ausgegeben werden, sind beträchtlich. Das Land ist voll von Pagoden; auf jeder Bergspitze sieht man sie, auf jedem Hügel. Sie stehen dort wie die Burgen der Raubritter am Rhein, nur zu einem anderen. Zweck! In der Nähe von Dörfern und Städten gibt es eine Unzahl Pagoden, große und kleine. Die große Pagode in Rangun ist so hoch wie St. Paul; andere, die ich sah, und es waren viele, sind nicht einmal zwei oder drei Fuß hoch, — das Opfer eines armen alten Mannes für den Großen Namen —, und Klöster gibt es überall. Jedes Dorf hat zumindest eins, die meisten haben zwei oder drei. Ein großes Dorf hat viele. Es würden noch mehr gebaut werden, wenn es Menschen gäbe, um darin zu leben, so bemüht sind alle, für die Mönche etwas zu tun. Immerhin existieren schon mehr als augenblicklich notwendig sind.

Rasthäuser gibt es im ganzen Land: fern im dichten Wald, in den Bergen, in einer kleinen Ausbuchtung am Wegrand von irgend jemand in Erinnerung an seine Reisegefährten erbaut. Man geht nicht fünf Meilen über die Landstraße, ohne auf Rasthäuser zu stoßen. In den Dörfern zählt man sie nach Dutzenden, in den Städten nach Hunderten. Es gibt viel mehr, als verlangt werden.

In der burmanischen Zeit wurden auch die Wege und Brücken auf dem gleichen Weg der privaten Wohltätigkeit gebaut. Heute hat die englische Regierung dies in die Hand genommen, und jetzt wird wahrscheinlich noch mehr Geld für Rasthäuser übrig sein. Mit der Zeit wird sich zweifelsohne die Mildtätigkeit auch in anderen Richtungen bewegen. Man wird Krankenhäuser hauen und ausstatten, man wird Geld für höhere Bildung ausgeben und auch für sonstige Zwecke, wenn auch nicht immer für das, was wir landläufig unter Mildtätigkeit verstehen, oder für Missionen, denn die Missionen, die sie aussenden, kosten nichts. Heilige Männer nennt man die, die sich der wirklichen Armut geweiht haben. Doch da ihre Zivilisation fortschreitet (ihre und nicht eine, die ihnen von außen aufgezwungen wird), werden sie neue Bedürfnisse erfinden, denen die Reichen abhelfen müssen, was sie sicher tun werden. Das ist eine bloße Angelegenheit des materiellen Fortschrittes.

Der Hang zur Mildtätigkeit ist sehr stark. Der Burmane gibt im Verhältnis zu seinem Besitz viel mehr für wohltätige Zwecke aus als andere Völker. Es ist ganz außergewöhnlich, wieviel er gibt, und dabei darf man nicht vergessen, daß er freiwillig gibt. Abgesehen von zwei oder drei Ausnahmen — für die Vergoldung der Schwedagon-Pagode zum Beispiel — sind Sammlungen nie veranstaltet worden. Es gibt kein Aufruf-Komitee, keine organisierten Sammlungen. Der Schenkende gibt direkt und von Herzen. Das ist eine wunderbare Sache.

Ich entsinne mich, kurz nachdem ich nach Burma gekommen war, lebte ich mit einem Freund in Toungoo, und ich ging mit ihm zusammen zu einem burmanischen Lieferanten. Wir waren ausgeritten, und auf dem Ruckweg wollte mein Freund geschäftlich mit diesem Mann sprechen. Wir ritten also zu seinem Haus. Er trat vor die Tür und bat uns, einzutreten. Wir stiegen ab und gingen die Treppen zur Veranda hinauf und setzten uns. Es war ein kleines Haus, aus Holz gebaut und enthielt drei Zimmer. Dahinter lag eine kleine Küche und ein Stall. Das Ganze mochte vielleicht tausend Rupien gekostet haben. Während mein Freund und der Burmane über Geschäfte sprachen, besah ich mir die Einrichtung. Es war nur wenig vorhanden. Drei oder vier Stühle, zwei Tische und eine große Truhe war alles, was ich entdecken konnte. Im Innern standen sicherlich einige Betten und noch einige Stühle. Unterdessen kamen die Frau und die Tochter und gaben uns Zigarren, und ich unterhielt mich mit meinen wenigen burmanischen Kenntnissen mit ihnen, bis mein Freund fertig war. Dann gingen wir fort.

Dieser Lieferant, so erzählte mir mein Freund auf dem Heimweg, verdiente wahrscheinlich sechs oder siebentausend Rupien jährlich. Ungefähr tausend davon brauchte er für sich, die übrigen flössen mildtätigen Zwecken zu. Die große neue Klosterschule mit der wunderbar geschnitzten Fassade, grade im Süden der Stadt, gehörte ihm, das neue Rasthaus, weit in den Bergen, an der Landstraße, gehörte ihm. Er unterstützte viele Mönche und schenkte viel Geld für das Vergolden der Pagode. Wenn eine Theatergesellschaft in die Gegend kam, spendete er reichlich. Er beabsichtigte, sich demnächst vom Geschäft zurückzuziehen, da er genug hatte, um den Rest seines Lebens in Ruhe verbringen zu können.

Sein Verhalten bedeutet keine Ausnahme, sondern die Regel. Man wird immer wieder feststellen, daß jeder wohlhabende Mann seine Pagode oder sein Kloster gebaut hat und „Schul-Stifter" oder „Pagoden-Stifter" genannt wird. Das sind die einzigen Titel, die die Burmanen kennen, und sie werden erst nach peinlicher Prüfung verliehen. Die Erbauer einer Brücke, eines Brunnens oder eines Rasthauses können auch den Titel „Brunnen-Erbauer" und so weiter erlangen, doch diese Titel werden in der Umgangssprache wenig benutzt. Sogar der Erbauer einer Hütte für Wasserkrüge darf sich, wenn es ihm paßt, danach benennen, doch nur große Stifter erhalten von ihren Mitbürgern einen Titel. Aber die Genugtuung für den Menschen, das Bewußtsein, daß er etwas Gutes getan hat, bleiben gleich, glaube ich.

Die Bedürfnisse eines Burmanen sind sehr gering, solche Bedürfnisse wenigstens, die man mit Geld befriedigen kann - ein kleines Haus, ausreichendes Essen, ein baumwollenes Gewand für die Woche und ein seidenes für den Sonntag, das ist fast alles.

Man sieht, daß sie noch ein sehr junges Volk sind. Später werden sie wahrscheinlich mehr Bedürfnisse haben, doch jetzt sind ihre Wünsche leicht zu befriedigen.

Dem Burmanen liegt nichts an einem großen Haus, denn jedes Dorf hat seine großen Bäume und weiten Plätze. Es ist viel angenehmer, draußen zu sitzen als drinnen. Bücher interessieren ihn nicht. Er besitzt etwas, das besser ist als viele Bücher—das Leben seiner Mitmenschen, und er hat Augen, es zu sehen, und ein Herz, es zu verstehen. Er will nicht mit den Augen Anderer, er will mit seinen eigenen Augen sehen. ER will nicht die Gedanken Anderer wissen, er will mit seinen eigenen denken. Denn Liebe zu Büchern hat nur der, der durch Krankheit, Armut, durch andere Umstände von der Welt getrennt lebt. Wenn wir arm und unglücklich sind, lesen wir gern von glücklicheren Menschen. Wenn wir in der Enge der Stadt leben, lesen wir gern von den Schönheiten der Natur. Wenn wir keine Liebe im Herzen tragen, dann lesen wir mit Freuden von Menschen, die lieben. Nur wenige Menschen, die sich mit ihren eigenen Gedanken beschäftigen, interessieren sich für die Gedanken von Anderen; denn eines Menschen eigene Gedanken sind ihm wertvoller als alle Gedanken der ganzen übrigen Welt. Ein Mensch, der denkt, ist eine große Sache. Kein großer Denker war zur gleichen Zeit ein großer Leser. Und was kümmert den, der imstande ist, sein Leben zu leben, das Leben Anderer? Es ist mehr wert, einmal geliebt zu haben, als alle Gedichte zu kennen, die je die Liebe besungen. Das ist die Anschauung des Burmanen.

So lebt der Burmane sein Leben, und er verlangt viel von ihm. Er braucht frische Luft und Sonnenschein. Er braucht Liebe und Kameradschaft, die Stimme von Freunden, das leise Lachen der Frauen, das Entzücken der Kinder. Sein Leben muß ausgefüllt sein, und er braucht Muße, damit sein Herz all diese Dinge genießen kann. Denn er weiß, man muß lernen, sich zu freuen, die Freude kommt nicht immer selbstverständlich: glücklich, offenherzig und freundlich zu sein, verlangt Erziehung. Wer mit seinen Mitmenschen mitfühlen, mit ihnen lachen und weinen will, darf sich nicht abschließen und arbeiten. Die Religion des Burmanen verlangt von ihm als Erstes Mitgefühl, das ist der erste Schritt auf dem Wege zur Weisheit, und er befolgt treu dieses Gebot. Er glaubt, daß Glück das erste von allen Dingen ist.

Wir denken anders. Wir sind zufrieden mit freudlosen Tagen, ohne Liebe, ohne Schönheit, ohne alles, was dem Herzen so wohl tut, wenn wir nur ein wenig Geld ersparen können, wenn wir unsere Tätigkeit ausbreiten und eine größere Rolle in der Welt spielen können. Nein, wir sind noch anspruchsloser: wir glauben, daß Arbeit, daß Fron eine schöne Sache an sich ist, daß Aufregung und Anstrengung bewundernswert sind.

Wir sind so, weil wir nicht wissen, was wir mit unserer Muße anfangen, weil wir nicht wissen, wonach wir streben sollen, weil wir nicht genießen können. Und darum kehren wir wieder zur Arbeit zurück, zu fieberhafter Anstrengung, weil wir nicht denken, nicht sehen, nicht verstehen können. „Arbeit ist ein Mittel für Muße", so lehrte Aristoteles, und Muße, fügt der Burmane hinzu, ist notwendig, damit du dich in deiner eigenen Seele zurechtfindest. Gewiß ist auch Arbeit eine Notwendigkeit, aber nicht im Übermaß.

Das Wichtigste für einen Menschen ist weder Gold, noch Stellung, noch Macht, sondern einfach seine eigene Seele. Nichts ist wert damit verglichen zu werden, denn was nutzt dem Menschen alles, wenn er keine Muße hat, es zu genießen? Und wenn er stirbt, folgen ihm diese Dinge dann ins Nichts? Nein; aber die Seele des Menschen folgt ihm und bleibt bei ihm für immer.

Die Vorstellung des Burmanen von dieser Welt wird wie bei allen anderen Völkern von der Religion beherrscht. Seine Religion sagt ihm: „Betrachte deine eigene Seele, das ist die Hauptsache." Seine Religion sagt ihm: „Das Ziel eines jeden Menschen sollte das Glück sein." Dies sind die Grundlagen seines Glaubens; das lernt er von Kindheit an; das wird mit ihm geboren. Er betrachtet die ganze Welt durch dieses Licht. Später, wenn er älter wird, sagt ihm seine Religion: „Das Glück kann man nur finden, wenn man auf die ganze Welt verzichtet." Das ist eine harte Lehre. Sie teilt sich ihm nur langsam mit, sonst wäre jeder Buddhist Mönch, doch mittlerweile ist er, solange er den beiden Regeln folgt, auf dem richtigen Pfad.

Glück ist das Ziel, das er erstrebt. Arbeit und Macht und Geld sind nur die Mittel, durch die er zur Muße gelangt, um seine eigene Seele zu belehren. Erst der Körper, dann der Geist; doch bei uns ist es immer zuerst der Körper und dann wieder der Körper.

Er beobachtet uns manchmal voll Erstaunen. Ersieht uns arbeiten, arbeiten und immer wieder arbeiten, er sieht, wie wir schnell alt werden und wie unser Geist erschlafft; er sieht wie unser Mitgefühl sich einschränkt, wie unsere Gedanken immer um das gleiche kreisen, wie unsere Seelen durch ein bißchen Geld, ein bißchen Ruhm, ein bißchen Beförderung zerstört werden, bis wir nach Hause gehen und nicht wissen, was mit uns selbst anzufangen, weil wir kein Mitgefühl kennen, und schließlich sterben wir und nehmen unsere Seelen mit — Seelen, die zu nichts taugen, die nur von einem Ansporn getrieben werden können.

Doch man glaube nicht, daß die Burmanen faul sind. Es gibt keine arbeitsamere Nation. Jeder Mann arbeitet, jede Frau, jedes Kind. Das Leben ist keine leichte Sache, nein eine schwere, und es muß viel Arbeit geleistet werden. Es gibt in ganz Burma keinen faulen Mann und keine faule Frau. Eine Klasse, die von der Arbeit Anderer lebt, existiert nicht. Der Burmane liebt kleine Arbeit, er tut große Arbeit, denn oft ist er dazu gezwungen, wenn er das wenige, das er braucht, ernten will. Er ist ein freier Mann, er ist nie der Sklave eines Anderen noch seiner selbst.

Und darum glaube ich nicht, daß er je eine große Nation darstellen wird, was wir eine große Nation nennen. Er wird nie den Versuch machen, andere Völker zu erobern, weder durch das Schwert, noch durch den Handel, noch durch die Religion. Er wird nie eine wichtige Stimme in der Führung der Welt haben wollen. Er wird sich nie in die Angelegenheiten anderer Völker mischen: eine Einmischung kann nur beiden Teilen schaden.

Er wird nie sehr reich, sehr mächtig, nie sehr fortschrittlich in der Wissenschaft werden, vielleicht nicht einmal in der Kunst, obschon ich da nicht ganz sicher bin. Es ist möglich, daß er in Kunst und Literatur groß werden wird. Doch gleichviel, in seiner eigenen Vorstellung wird er immer die größte Nation der Welt sein, weil er die glücklichste ist.


Noch nirgendwo sah ich so viele lächelnde Menschen: