Wissenschaft


Wir dachten immer, wenn wir 1 kennen,
dann kennen wir auch 2,
denn 1 und 1 sind 2.

Jetzt finden wir heraus,
dass wir lernen müssen,

was "und" bedeutet.

(Sir Arthur Eddington)


Das Sehen ist abhängig von der Brille, die man aufgesetzt hat.
Das Sehen ist abhängig von der Brille, die man aufgesetzt hat.

Als Schüler der frühen 1960er-Jahre lernten wir in der Schule - mehr oder weniger unbegeistert - im Biologieunterricht, dass Darwin mit seiner Evolutionstheorie (um 1850) recht und Lamarck mit seiner Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften (um 1800) unrecht hatten, und hörten über die Ergebnisse der Erbsen-Züchtungsversuche des Augustinermönches Gregor Mendel im Klostergarten von Brünn (um 1860), die erst 40 Jahre später wiederentdeckt und bestätigt worden waren.

Im Biologiestudium der frühen 70er-Jahre bestimmten die Entdeckungen der molekularen DNA-Struktur (1953) und der Transkription der Gene in RNA und der Translation in Proteine das Bild der Genetik und förderten mein kausales Denken. 

Mein bis dahin relativ eindimensionales Weltbild der Biologie wurde 1978 bei einem Besuch eines amerikanischen Genetikers (Gerald Holmquist) in meiner damaligen Arbeitsstätte, dem Institut für Humangenetik der Medizinischen Hochschule Lübeck, grundlegend erschüttert. Er berichtete davon, dass Bakterien erworbene Eigenschaften vererben könnten. Das war unglaublich! Lamarck hatte also teilweise recht.

 

Etwas, was früher evtl. dazu führte, dass man durchs Abitur oder das Biologie-Diplom fiel, wird heute wissenschaftlich erforscht: Der Weg vom Gen zum Phänotyp scheint keine "Einbahnstraße" zu sein.

Zum einen ermöglichen sog. "springende Gene" (Transposonen) und Plasmide den Gentransfer zwischen Zellen und Individuen, nicht nur bei Bakterien.

Zum anderen ist für die Vererbung das Genom nicht allein entscheidend: Die Umwelt steuert die Genaktivität. Und auf noch nicht genau bekanntem Wege können erworbene Eigenschaften selbst bei Mäusen und Menschen auf nachkommende Generationen weitergegeben werden. Dies untersucht seit Beginn des Jahrtausends die sog. EpigenetikGene und Umwelt stehen in einer Wechselbeziehung. Ja, offenbar kann sogar Lernen zur Entstehung neuer Arten führenEs gibt Forderungen von Wissenschaftlern, die Evolutionstheorie neu zu formulieren. 

 

In der Biologie wie auch in anderen Disziplinen ist heute ein Denken nötig, das über die simple Kausalität hinausgeht. Systemisches Denken hat sich bereits in viele Wissenschafts- und Praxisbereiche ausgebreitet (z.B. Ökosystemtheorie, Systemische Therapie), jedoch leider noch nicht in alle. Immer noch werden kausale Zusammenhänge als die einzige Wahrheit  verkauft, wo eher ein konditionales Verständnis angemessen wäre. Und zu selten wird - vor allem bei komplexen Zusammenhängen - und vor allem bei der verbreiteten Auftragsforschung der Einfluß des Beobachters hinterfragt. (Interessanterweise sind sowohl die konditionale Sichtweise als auch die Rolle des Beobachters im mehr als 2.000 Jahre alten buddhistischen Abhidhamma  grundlegend und wurden in der westlichen Wissenschaftstheorie mit der Systemtheorie und dem Konstruktivismus erst vor wenigen Jahrzehnten neu "erfunden".)

 

Es ist also absolut rational, selbst sog. "gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse" (vor allem wenn sie aus dem Munde von Politikern und offenkundigen Interessenvertretern kommen) mit dem Bewusstsein anzusehen, dass sie immer nur Modellvorstellungen mit einer von der Fragestellung bzw. dem Beobachter abhängenden Sichtweise auf unsere Realität sind, dass sie als solche einer "Mode" unterliegen und eine "Halbwertzeit" haben, und dass durchaus auch andere Sichtweisen möglich sind und diese evtl. genauso richtig sein können. Aber - das muss man in Zeiten von Trivialesoterik, Fake und Populismus betonen! - nicht alles Gedachte ist gleich bedeutend und nicht jeder Blödsinn wahr.

 

Glaube nicht alles, was du denkst!

 

In der Wissenschaft und vor allem im individuellen Leben ist es nützlich, immer wieder mal eine andere Brille aufzusetzen, vielleicht eine, die zur Situation oder Fragestellung besser passt, und dann das zu verändern, was "nicht mehr richtig" ist. 

 

Nur die Berücksichtigung auch anderer Sicht- und Denkweisen führt zu Freiheit, zu emotionaler Gelassenheit, zu mehr Toleranz und zu weiterer geistiger Entwicklung. 


Wir erzeugen buchstäblich die Welt,
in der wir leben,

indem wir sie leben.

(Humberto R. Maturana)